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Gesundheit ist kein „nice to have“, sondern ein Menschenrecht: Bericht zum 6. Webinar „bRENNglas Corona-Krise“

RENN.west
Prof. Dr. Nico Dragano, Medizinsoziologe an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Prof. Dr. Gerhard Trabert, Vorstand des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“

Lesen Sie hier unseren Nachbericht zum 6. Webinar der Reihe "bRENNglas Corona-Krise". Zum Thema "Soziale Gerechtigkeit" sprechen  Prof. Dr. Nico Dragano und Prof. Dr. Gerhard Trabert. Einen Mitschnitt der Veranstaltung finden Sie hier.

Die Corona-Pandemie mit all ihren Konsequenzen zeigt aktuell drastisch, wie wichtig das globale Nachhaltigkeitsziel 3 – Gesundheit und Wohlergehen – ist. Auch die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie betont, dass das „Wohlergehen der Menschen heute und in Zukunft“ im Mittelpunkt einer nachhaltigen Entwicklung steht und Gesundheit ein Menschenrecht ist: alle haben ein Recht auf ein Höchstmaß an körperlicher, geistiger sowie sozialer Gesundheit und bei der Verwirklichung dessen darf niemand zurückgelassen werden. Darin waren sich auch die beiden Referenten des 6. Webinars bRENNglas Corona-Krise, Prof. Dr. Nico Dragano, Medizinsoziologe an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, und Prof. Dr. Gerhard Trabert, Vorstand des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“, einig. In ihren Beiträgen zeigten sie sehr eindrücklich die Zusammenhänge zwischen sozialer Benachteiligung und gesundheitlicher Chancenungleichheit auf.

Systemische Zusammenhänge zwischen sozialen Faktoren und Gesundheit 

„Wir wissen eigentlich ganz gut Bescheid darüber, dass aktuell in Deutschland, in allen europäischen Ländern, in nahezu allen Ländern weltweit die Chance auf ein gesundes, langes Leben ungleich verteilt ist“, leitet Nico Dragano in das Thema ein. Verschiedenste soziale Indikatoren könne man dazu betrachten und Zusammenhänge sehen: Einkommen, Vermögen oder Schulden, Bildung, Migrationserfahrungen etc. Beispielsweise hätten armutsgefährdete Männer in Deutschland eine 8,6 Jahre kürzere Lebenserwartung als Männer, die mehr als 150% des durchschnittlichen Einkommens verdienen. 

Das Problem entsteht laut Dragano auf einer systemischen Ebene: mit der sozioökonomischen Position (Bildung, Beruf, Einkommen) und/oder soziodemographischen Merkmalen (Alter, Geschlecht, Migrationsgeschichte) sei sehr vieles verknüpft, was mit Gesundheit zu tun hat: Lebenschancen, erlernte Verhaltensweisen, ausgeübte Arbeit, aber auch die Gesundheitsversorgung. „Sie haben wenig Geld – dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Sie in einem Stadtviertel wohnen, wo es sehr eng ist, wo Sie Umwelt- und Lärmbelastungen haben und in Zeiten von Corona ein hohes Risiko, Leute mit Corona zu treffen“, führt Nico Dragano weiter aus. Berufe im unteren Einkommenssegment könnten auch meist nicht im Homeoffice ausgeübt werden (wie Paketfahrer:innen, Altenpflege). Hinzu komme der ungleiche Zugang zu Gesundheitsversorgung, z.B. zu Testzentren im Stadtviertel.

Die Corona-Krise verschärft Ungleichheiten

Wie bei vielen anderen epidemischen Krankheiten auch treffe Covid-19 die ärmere Bevölkerung stärker, so Dragano. Eine Untersuchung in Großbritannien ergab, dass dort die Wahrscheinlichkeit eines positiven Covid-19-Tests bei Ärmeren um 60% höher war, bei niedriger Bildung lag ein zweifach erhöhtes Risiko vor. Aber insbesondere die Wahrscheinlichkeit schwerer Krankheitsverläufe und die Mortalität sei z.B. in benachteiligten Gebieten erhöht. Ausgeprägte Ungleichheiten zeigten sich nicht so stark beim Ansteckungsrisiko, sondern vor allem bei den schweren Verläufen und Sterbezahlen. 

Hinzu komme, dass die Pandemie weitere gesundheitliche Auswirkungen wie psychische Belastungen (z.B. durch soziale Isolation), gesundheitliche Belastungen durch wirtschaftliche Probleme (wie Arbeitslosigkeit oder Einkommensverluste) oder Unterversorgung (kurativ wie präventiv) mit sich bringe. Die Krise verschärfe die Ungleichheiten: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, denen es ohnehin schon nicht gut geht, verschlechtern sich und auch ihre gesundheitlichen Chancen verringern sich. Die Datenlage zeige, dass gesundheitliche Chancengerechtigkeit kein „nice to have“ sondern eine elementare Komponente der Pandemiebekämpfung sei. 

Systemische Lösungsansätze sind notwendig

Als Lösungsweg sieht Nico Dragano Prävention als systemischen Ansatz und ein funktionierendes Public Health System. „Das kann nicht innerhalb des Gesundheitssystems passieren, denn wenn sie darin landen, sind sie ja schon krank. Sie sollen ja eben nicht krank werden“, so Dragano. Allerdings bleibe richtig gemachte Prävention nicht auf der Verhaltensebene: „Da ist nicht mehr die Frage nach dem Schulfach Gesundheitsbildung, was mit Sicherheit alles andere als falsch wäre, aber die eigentliche Frage ist die nach Bildungsgerechtigkeit.“ Es gehe um strukturelle Fragen und da gebe es Widerstände, die anzupacken. Man sei ganz schnell im Bereich von Interessen und Kosten. Deshalb brauche es für diese Aushandlungsprozesse ein sehr gut aufgestelltes und gehörtes Public Health System, das eine gute Moderation herstellen könne.

Teufelskreis Armut und Krankheit

„Die Korrelation von sozialem Status und Krankheit – das ist so lange bekannt und ich bin nicht optimistisch, dass sich jetzt hier irgendetwas verändert“, ist Gerhard Traberts nüchterne Einschätzung der aktuellen Situation. Trabert beschreibt den Teufelskreis: Kranke werden eher arm und chronische Erkrankungen führen immer häufiger zur Einkommensarmut. Und Arme werden wiederum eher krank. So sei die Suizidrate 20-fach höher, denn „nicht gebraucht zu werden, am Rand dieser Gesellschaft zu sein ist Stress und führt auch häufiger zu Angststörungen, auch bei Kindern.“ Viele Menschen können sich laut Trabert eine normale Gesundheitsversorgung schlicht nicht mehr leisten – der Hartz-IV-Satz sehe nur 17,02 Euro für Gesundheitsfürsorge vor.

Vielfältige Benachteiligung durch die Pandemie

Eine unmittelbare Folge der Pandemie und der staatlich verordneten Schutzmaßnahmen sei gewesen, dass Hilfsangebote für Betroffene wie Tafeln oder Sozialarbeit im Stadtteil stark eingeschränkt oder geschlossen wurden. Außerdem kam es zu Arbeitsplatz- und Einkommensverlusten, weshalb Gerhard Trabert davon ausgeht, dass es nun wesentlich mehr von Armut betroffene Menschen geben wird. 

Von Armut Betroffene seien vielfältig benachteiligt während der Pandemie: Sie müssen mit dem ÖPNV fahren (erhöhtes Ansteckungsrisiko), können Lebensmittel nicht auf Vorrat kaufen, ihren Kindern oft weder Computer noch Internetzugang finanzieren, leben beengt und sind Lärm- und Luftverschmutzung stärker ausgesetzt. Die Pflicht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, benachteilige Einkommensbedürftige durch Zusatzausgaben. Von Armut betroffene Kinder seien bezüglich der Homeschooling-Situation benachteiligt, wohnungslose Menschen haben keinen oder kaum Rückzugsmöglichkeiten, geflüchtete Menschen in Sammelunterkünften seien erhöhtem Infektionsrisiko ausgesetzt.

 „In vielen Sachen ist es wirklich unglaublich, wie ignorant und arrogant Politik mit der Lebenssituation sozial benachteiligter Menschen umgegangen ist und umgeht“, findet Trabert. Seiner Meinung nach sind viele politische Entscheidungsträger viel zu weit weg von der Lebensrealität der Menschen. Sie hätten in seinen Augen „früher aktiv werden müssen und nicht warten, bis all das, was wir erwartet haben, sich auch bestätigt.“

Das Recht auf Gesundheit ermöglichen

Gerhard Trabert sieht neben einer respektvollen, wertschätzenden Kommunikation vor allem einen Bedarf an niedrigschwelligen medizinischen Sprechstunden in den Stadtteilen und interdisziplinäre Versorgungskonzepte. Zugleich warnt er auch davor, nicht zu „Tafeln der Gesundheitsversorgung“ zu werden: „Es geht nicht darum, Armutsmedizin zu etablieren. Aber ich kann auch nicht warten, bis die Politik darauf reagiert, dann ist die Hälfte meiner Patienten tot“. Es gehe auch um eine soziale Beratung, um den Menschen wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, ins vorhandene Gesundheits- und Sozialleistungssystem zurückzukehren.

Von der Politik fordert Trabert vor allem strukturelle Veränderungen: unter anderem einen höheren Hartz-IV-Satz, keine weitere Privatisierung, besondere Schutzmaßnahmen für wohnungslose und geflüchtete Menschen sowie die Gesundheitsförderung von einkommensschwachen Menschen zu realisieren. Letztlich gehe es darum, allen einen Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung zu ermöglichen.

Hoffnungsfrohe Ausblicke

Nico Dragano wünscht sich, das Thema mit vielen Akteuren weiterzuentwickeln und dass vor allem auch jüngere Menschen es aufgreifen und massiver bespielen. Er sehe auch unter Mediziner:innen einen überwältigenden Drang dazu, diese gesundheitlichen Ungleichheit zu verringern. „Das stimmt schon hoffnungsfroh, dass es auch mal vorwärtsgehen kann. Weil Not täte das“, so Draganos Fazit.
Gerhard Trabert wünscht sich zum einen eine strukturelle Verankerung des Themas in der Ausbildung von verschiedenen Berufen, zum anderen solle jede:r, der in den Bundestag kommt, einmal hospitieren bei den Tafeln, einem Arztmobil etc., „denn das macht was mit den Menschen.“ Hoffnung gibt Trabert die aktiver werdende Jugend, aber auch die Sensibilität und Solidarität, die er generell in der Gesellschaft wahrnimmt und die noch mehr mobilisiert werden könne. „Vielleicht haben wir jetzt, wo es wie unter einem Brennglas noch deutlicher wird, doch die Chance, auf diese systemische, strukturelle Benachteiligung von Menschen noch vehementer hinweisen zu können. Das müssen wir nutzen“, ist Traberts letztlich dann doch optimistischer Ausblick.

Das Online-Seminar „bRENNglas Corona-Krise: Wie geht es weiter mit … sozialer Gerechtigkeit und Gesundheit?“ am 26. Mai 2021 wurde aufgezeichnet. Den Mitschnitt finden Sie hier.

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