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Transformation durch mehr Eigennutz, mehr Gemeinsinn oder „mehr vom weniger“? Bericht zum 4. Webinar „bRENNglas Corona-Krise“

RENN.west

Am 04. März 2021 sprachen wir im Zuge unserer Online-Seminarreihe „bRENNglas Corona-Krise“ über nachhaltiges Bauen und die Verkehrswende - mit Dr. Saskia Hebert, Stadt- und Transformationsforscherin aus Berlin, und Frank-Michael Uhle, Klimaschutzmanager des Rhein-Hunsrück-Kreises. Neben dem Nachbericht kann auch ein Videomitschnitt des Webinars angesehen werden.

Wie gelingt es eigentlich, den Funken überspringen zu lassen und nachhaltige Ideen und Lösungen so attraktiv zu machen, dass man gar nicht anders kann, als sie zu wollen? Von Visionsprozessen bis zu praktischen Umsetzungsbeispielen, vom urbanen bis in den ländlichen Raum ging das Spektrum der Impulse in unserem vierten Seminar der Reihe bRENNglas Corona-Krise. Die Referent*innen Dr. Saskia Hebert, Stadt- und Transformationsforscherin aus Berlin, und Frank-Michael Uhle, Klimaschutzmanager des Rhein-Hunsrück-Kreises, gaben den Teilnehmer*innen inspirierende Einblicke in ihre Denk- und Schaffenswelten rund um den Themenkomplex nachhaltiges Bauen und Verkehrswende. 

Unter dem Titel „More of Less“ lädt Saskia Hebert die Teilnehmenden zunächst zu einem Spaziergang durch verschiedene Aspekte des Themenkomplexes ein. Sie sieht die Herausforderungen vor allem in den systemischen Zusammenhängen in dem Bereich und sagt auch ganz klar: „So kann es nicht weitergehen, mit so leisen Korrekturen.“  

Die Krise als Krise 

Die Auswirkungen der Corona-Krise sah sie zu Beginn noch als Chance – dafür, dass der Status Quo infrage gestellt oder auch neue Formen der Solidarität entstehen könnten. Diese Hoffnung ist inzwischen geschwunden. Die Menschen seien verunsicherter, die Solidarität verblasst, wir machen Schulden und die Ungerechtigkeit steige.  

Als einen der Treiber hinter den gesellschaftlichen Krisen sieht Hebert das Paradigma des Wachstums als Fortschritt: das immer mehr von allem und allen geht es immer besser. Auf einem begrenzten Planeten ist aber auch die Fläche begrenzt, so nehme die Flächenkonkurrenzen stetig zu. 

Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie fällt ihrer Meinung nach sehr schnell in ein sektorales Denken: „Man rechnet Treibhausgase, Müllmengen oder Lärmbelastung aus – und wenn man das so schön trennt, dann hat man auch das Gefühl, man kann es beherrschen.“ Das helfe zunächst mal bei der Problemlösung, berge aber Konflikte, weil Konkurrenzen nicht benannt werden. Sie verdeutlicht dies am Beispiel der „doppelten Innenentwicklung“: Das Umweltbundesamt empfehle, keine neuen Flächen zu beanspruchen, sondern innen doppelt zu bauen, zu begrünen und den Nahverkehr zu stärken. „Aber dass dieses ganze Verdoppeln vor allem steigende Bodenpreise zur Folge hat, ist ein Aspekt, der zu wenig beleuchtet wird in der Debatte“, so Hebert. 

Wo wollen wir hin? 

Saskia Hebert sieht dagegen die Notwendigkeit, dass wir uns viel mehr Gedanken darüber machen sollten, wo wir eigentlich hin wollen – und vor allem auch darüber, wie wir dorthin kommen. Dazu brauche es Transformationswissen und Experimente, aus denen man lernen kann: „Ständiges Testen und Kreisläufe sind wichtig, auch für meine Profession, die oft denkt ‚Wir machen einen Plan und dann gehen wir von A nach B und dann sind wir fertig.‘ Nein, dann fängt es eigentlich wieder von vorne an.“ 

Bilder und städtische Konzepte aus den vergangenen Jahrzehnten seien wirkmächtig und prägen unsere Vorstellung von Städten, Verkehr, Digitalisierung heute. Und sie haben zu Infrastrukturen geführt, die langlebig seien und gewisse Zwänge vorschreiben: „Man kann nicht Autobahnen bauen und dann den Leuten auf dem Land die Autos wegnehmen.“ 

Wie kommen wir dort hin?  

Verbieten hält Saskia Hebert für keine besonders erfolgsversprechende Strategie. Stattdessen solle das Ziel sein, „Dinge so attraktiv zu machen, dass man gar nicht anders kann, als mitmachen zu wollen.“ Öffentliche Räume anders gestalten, gemeinschaftlich wohnen, genossenschaftlich arbeiten, das Mobilitätskonzept umkrempeln – geteilte Visionen dazu zu erzeugen, sei gar nicht so schwierig. 

Hebert hält es außerdem für wichtig, Degrowth- und Suffizienzstrategien stärker in den Vordergrund zu bringen. Bestandsgebäude sollten ihrer Meinung nach unbedingt stehen bleiben, statt sie abzureißen und neuzubauen. Da Honorare anteilig an der Bausumme gezahlt werden, habe diese Einstellung in ihrem Berufsstand jedoch noch nicht Fuß gefasst. In der Schweiz gäbe es bereits ein schlaueres Modell, wo man auch für Einsparungen eine Prämie bekommt, um eher günstig, einfach oder weniger zu bauen. Sie wünscht sich einen Perspektivwechsel und Kulturwandel. „Das ist natürlich ein dickes Brett und man muss lange arbeiten, aber es lohnt sich.“ 

Herausforderung ländlicher Raum 

Vom urbanen in den ländlichen Raum nimmt uns anschließend Frank-Michael Uhle mit: in den Rhein-Hunsrück-Kreis, wo 75 Prozent der 137 Städte und Ortsgemeinden weniger als 500 Einwohner haben. „Viele reden vom ländlichen Raum, wir sagen selbstbewusst: Wir sind es“, so Uhle. Die ehemals strukturschwache Region sei revitalisiert und ziehe nun Menschen aus den Städten zurück aufs Land. Den Umschwung brachten zahlreiche Klimaschutzprojekte, insbesondere die Investition in erneuerbare Energien – inzwischen erzeuge man dreimal so viel Strom, wie im Kreis verbraucht werde. „Wir sind da vielleicht der erste bilanzielle Null-Emissions-Landkreis“, konstatiert Uhle, sprich: Der erneuerbare Strom gleicht die Emissionen im Wärme- und Abfallbereich aus.  

Im Bereich Verkehr seien die Emissionen allerdings gestiegen. Als Pendlerregion seien die Menschen auf individuelle Mobilität angewiesen – auf 103.000 Einwohner*innen kommen 71.100 zugelassen PKWs. „Das ist nicht nur ein Problem für die CO2-Bilanz, sondern auch für die Haushaltskasse“, meint Uhle. Er sieht in der E-Mobilität eine riesige Chance für den ländlichen Raum, da die Betriebskosten viel geringer seien als beim Verbrennungsmotor.  

E-Carsharing auf dem Land 

„Unser Ziel kann es aber nicht sein, die 70.000 PKWs durch 70.000 E-Fahrzeuge zu ersetzen“, stellt Uhle direkt klar. Vielmehr sollen vor allem Zweitautos aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen durch Gemeinschaftsautos ersetzt und eine Ergänzung des ÖPNV gehschaffen werden. Sie setzen im Rhein-Hunsrück-Kreis deshalb auf Carsharing: das E-Dorfauto. Eine Ökogruppe in Neuerkirch habe bereits 2014 die Ziele des Dorfautos aufgeschrieben. „Wir brauchten das einfach nur per Drag&Drop in unser Kreiskonzept übernehmen – die tollen Ideen bei uns kommen alle aus der Bevölkerung.“  

Im Dezember 2019 startete das Projekt: Sieben Gemeinden bekamen für 12 Monate ein E-Auto gestellt, dass Bürger*innen kostenfrei nutzen können. Nach 12 Monaten wechseln die Autos an einen neuen Standort. Die Gemeinde muss einen zentralen Stellplatz zur Verfügung stellen, garantieren, dass das Auto mit Ökostrom geladen wird, und einen ehrenamtlichen Kümmerer benennen. Die Resonanz auf das E-Dorfauto war so groß, dass es in drei Jahren an 24 Standorten ausprobiert werden kann. „Wir haben so zwei Hemmschwellen überwunden“, sagt Uhle, „die Angst vor der E-Mobilität und wir haben den Sharing-Gedanken aus den Städten in die Dörfer gebracht und alle denken jetzt darüber nach.“ 

Nahwärmenetze in Bürgerhand 

Als Beispiel aus dem Bereich nachhaltiges Bauen stellt Klimaschutzmanager Uhle noch die Bürgernahwärmenetze vor. Denn die schnelle Dekarbonisierung des Gebäudebestands ist eine weitere große Herausforderung. Inzwischen gibt es im Rhein-Hunsrück-Kreis 17 Bürgernahwärmeverbünde mit Holzhackschnitzelheizung (betrieben mit Waldrestholz) bzw. auch mit Solarthermie. Aber auch Baum- und Strauchschnitt aus Privathaushalten wird für die Anlagen ganz im Sinne einer Kreislaufwirtschaft an zentralen Plätzen gesammelt – 38 kommunale Gebäude werden damit beheizt. 

Beachtlich ist vor allem auch die regionale Wertschöpfung, die durch die Klimaschutzprojekte entsteht: allein die Bürgernahwärmenetze bringen eine Ersparnis von 2,7 Millionen Litern Heizöl. „Wenn es uns gelingt, das Dorfauto- und E-Auto-Konzept umzusetzen, werden zukünftig 90 Millionen Euro in der Region bleiben, die heute noch an der Tankstelle abfließen“, so Uhle. „Das klingt jetzt visionär, aber ich denke, dass wir das in zehn Jahren geschafft haben und nebenbei noch unsere Klimaziele einhalten.“ 

Eigennutz und Gemeinsinn 

In der anschließenden Diskussion ging es unter anderem darum, wie es gelingt, dass der Funke überspringt und die Menschen mitziehen. Zum einen habe etwas eingesetzt, was er „an der sozialen Norm kratzen“ nenne, meint Uhle. Wenn die Nachbarn sehen, dass es funktioniert und man auch noch Geld sparen kann, wollen sie es auch machen. Es sei quasi „eine Form von Neid, die wir im positiven Sinne kanalisieren.“ Zum anderen müsse auch der persönliche Mehrwert deutlich werden. „Jeder Bürger muss seinen individuellen Vorteil erkennen – wir müssen von den Chancen, von den positiven Bildern reden“, bekräftigt Uhle.  

Auch Saskia Hebert hält die soziale Norm für außerordentlich wichtig und unterstreicht: „Das befördert den Kulturwandel letztlich schneller als alle Appelle, Vorschriften, Regularien und Normen – und die machen noch schlechte Laune, das ist der große Nachteil an diesen restriktiven Maßnahmen.“ Allerdings wünscht sie sich gleichzeitig auch mehr Gemeinsinn und das Bewusstsein dafür, dass man nicht nur sich selber etwas Gutes tun muss, sondern auch etwas füreinander. Klimaschutzmanager Uhle kann dies auch aus der Erfahrung in seinem Kreis bestätigen: „Ein Dorfwärmenetz zu bauen ist viel mehr, als Einzelöfen gegen ein Zentralheizung auszutauschen – es ist eine wunderbare Dorfgemeinschaft entstanden und viele Folgeprojekte.“

Das Online-Seminar „bRENNglas Corona-Krise: Wie geht es weiter mit … nachhaltigem Bauen und Verkehrswende?“ am 4. März 2021 wurde aufgezeichnet. Den Mitschnitt dieser und anderer Veranstaltungen finden Sie hier: youtube.com/playlist/brennglas

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